tageszeitung, 12.02.2016

Havarie
Manuel Schubert

(...)Ein Mann mit stark irischem Akzent berichtet von einer verborgenen Erinnerung: eine schockierende Erfahrung seiner Jugend in seiner Heimatstadt Belfast, bei der sein bester Freund von britischen Soldaten erschossen wurde. Was hat diese Geschichte mit den Geflüchteten in dem kleinen Schlauchboot zu tun? Einiges, denn dieser Mann ist einer der 3500 Passagiere der „Adventures of the Seas“. 3500 Menschen mit eigenen Geschichten, die so unvergleichbar scheinen mit jenen der Geflüchteten. Und doch teilen 3513 Menschen an einem Tag im September 2012 für anderthalb Stunden die gleiche Geschichte – am unvorstellbarsten Ort der Welt, mitten in einem ruhigen, sonnigen, blauen Nirgendwo bei 37º/28.6ʼnördlicher Länge und 0º/3.8ʼ östlicher Länge. Andertahlb Stunden, von denen der Passagier, er bleibt namenlos wie alle anderen Stimmen in HAVARIE auch, knapp zehn Minuten mit seinem Smartphone aufgenommen hat. Philip Scheffner fand dieses Video auf Youtube. Drei Minuten davon dehnte er auf 93 Minuten aus. Bewegtbilder, radikal in ihrer Geschwindigkeit runtergebrochen. Das Kinobild mutiert zu einer grobkörnigen, rauschenden Fläche in Blau – darin ein schwarzer Punkt. Einer von Tausenden vor der Festung Europa. Ganzer Artikel